Geschichte und Herkunft der Roma
26-02-2000
Die Nachforschungen nach der ursprünglichen Heimat der Roma waren seit
dem Mittelalter, als sie in Europa erschienen, ein grosses Geheimnis für
die Bewohner derjenigen Länder, in die sie einwanderten, wie auch für
die Historiker. Das Datum ihrer Ankunft in Europa kann nicht genau
festgelegt werden, weil sich die einzelnen Gruppen der Roma unabhängig
von einander in Europa verteilten, jede auf einem eigenen Weg. Man kann
sich lediglich auf erhaltene Aufzeichnungen in den Stadtarchiven
stützen. Die angegebenen Daten bezeichnen die "offizielle" Entdeckung,
nicht aber die genaue Ankunft, denn in diese Archive gelangten die Roma
nur im Zusammenhang mit einem konkreten Ereignis.
Die mittelalterlichen Gelehrten stellten sich deshalb die Frage, wer die
Roma seien, woher sie in die böhmischen Länder gekommen seien und was
ihre eigentliche Heimat sei. Durch lange Jahrhunderte war Europa nicht
in der Lage, diese Fragen zu beantworten. Mit den fehlenden Kenntnissen
über die Roma hing auch der Abstand zusammen, der zwischen den Roma und
der übrigen Bevölkerung entstand und der in der Mehrheit der Bevölkerung
bis heute existiert.
Die bekannteste und am weitesten verbreitete These über die Herkunft der
Roma siedelte ihre Urheimat in Aegypten an, woher sie später in die
christlichen Länder kamen. In vielen Ländern wurden sie nach dem
vermuteten ägyptischen Ursprung benannt - Gitanos in Spanisch, Gypsies
in Englisch, Gitanes in Französisch - aber diese Namen sind
offensichtlich von der Landschaftsbezeichnung Kleinägypten auf dem
Peloponnes in Griechenland oder von der Landschaftsbezeichnung
Kleinasien abgeleitet. Auf dem Balkan wurden sie mit einem Terminus
bezeichnet, der ursprünglich einer Sekte vorbehalten war -
Athiganoi-Atsiganos, woraus eine weitere Benennungsgruppe entstand -
Zingaro in Italienisch, Tsigane in Französisch, Zigeuner in Deutsch,
Cigani in slawischen Sprachen, und auch das tschechische Cikani.
Der erste Schritt zur Antwort auf die Frage, wer die Roma seien, gelang
durch Zufall 1763 dem ungarischen Theologiestudenten Stefan Vali, der in
Holland in Leyden einige Inder traf - Malabaren, die dort Medizin
studierten. Vali war überrascht durch ihre Aehnlichkeit mit den Roma,
die er aus seiner ungarischen Heimat gut kannte. Es blieb nicht nur beim
äusserlichen Eindruck, und er schrieb mehr als tausend malabarische
Wörter auf, die sie verwendeten, zusammen mit ihrer Bedeutung. Als er
nach Hause zurückkehrte und bei den Roma die Bedeutung der
aufgeschriebenen Wörter prüfte, war er überrascht durch die Aehnlichkeit
der Sprache. Diesem Beginn folgte ein eingehendes Studium, dem sich eine
ganze Reihe von Fachleuten widmete - Linguisten, Historiker, Ethnologen.
Die indische Abstammung der Roma steht heute ausser Zweifel.
Dispute darüber, in welche Schicht der indischen Bevölkerung, d. h. in
welche Kaste, die Roma gehörten, werden seit Jahren zwischen Linguisten
und Historikern geführt. Die Mehrheit der Fachleute gelangte durch ihre
Forschungen zur Annahme, dass die Roma zur tiefsten Kaste gehörten. Die
streng unterteilte Rangordnung der indischen Gesellschaft bildete die
höchste Kaste der Brahmanen (Priester), nach ihnen die Ksatri (Herrscher
und Kämpfer) sowie die Vajsij (Handwerker, Landwirte, Händler), nachher
die Sudra (Dienst- und Hilfspersonal) und schliesslich die unterste
Kaste der sogenannten Unberührbaren. Möglicherweise würde die
Zugehörigkeit zur untersten Kaste auch eine Erklärung dafür bieten,
warum die Roma ab dem 8. Jahrhundert begannen, Indien zu verlassen. (Der
Zeitpunkt lässt sich dadurch belegen, dass in ihrer Sprache Aenderungen
ausblieben, die in den indischen Sprachen später stattfanden). Es ist
auch möglich, dass sie durch zahlreiche Dürreperioden und Hungersnöte
zur Auswanderung getrieben wurden, oder sie wollten sich der strengen
indischen Kastenordnung entwinden und für ihre Produkte und
Dienstleistungen anderswo Absatz finden.
Zeugnis für die indische Abstammung ist nicht nur die Sprache, sondern
auch die Aehnlichkeit einiger Bräuche sowie der gesellschaftlichen
Struktur, der Auswahl der Berufe, ähnlicher Eisenbearbeitungsmethoden
usw. Die Geschichte der Roma konnten am genauesten die Linguisten anhand
der Entwicklung der Roma-Dialekte nachzeichnen. Auf Grund der Tatsache,
dass die Sprachentwicklung gewissen Gesetzen folgt, konnten die
Linguisten Zeit und Ort des Aufenthalts am genauesten ermitteln. Unter
den ersten Sprachwissenschaftern präzisierte dies Martin Bock (1936):
"Die Zahl der Lehnwörter in der Sprache der Roma korrespondiert mit der
Länge ihres Aufenthalts in verschiedenen Ländern. "Dank dieser
Erklärung können wir die Wanderungsbewegungen der Roma auf dem Weg von
Indien nach Europa mit grösserer Genauigkeit bestimmen".
Nach der Ansicht von Linguisten und Historikern wanderten die Roma in
Abhängigkeit von geographischen Bedingungen über Mesopotamien in den
Nahen Osten und den asiatischen Teil der Türkei, wo der grösste Teil
stehen blieb und sich über etwa drei Jahrhunderte aufhielt (12.-15.
Jahrhundert).
Diese Zeit half ihnen in der ersten Orientierung in einer neuen Kultur
und erleichterte die spätere Wanderung nach Europa. In Abhängigkeit von
der mongolischen und türkischen Expansion wanderten sie weiter über
Kleinasien und den Balkan und hielten sich wohl auch einige Zeit in
Griechenland auf, wovon zahlreiche griechische Wörter in ihrer Sprache
zeugen. Durch das Donautal gelangten sie nach Mitteleuropa. Ein anderer
Strom führte über Armenien, den Kaukasus und später Russland bis nach
Skandinavien. Im 15. Jahrhundert waren die Roma in ganz Europa
zerstreut, England und Schottland nicht ausgenommen.
Zu Beginn weckten diese Leute in Europa Neugier, und ihr exotisches
Aussehen gab Anlass zu verschiedenen Vermutungen über den Grund ihres
Wanderlebens sowie über ihre Urheimat. Die europäischen Völker waren
anfangs den Wandernden gegenüber nachsichtig, nahmen sie als reumütige
christliche Pilger auf, als die sich die Roma ausgaben. Die Chronisten
beschrieben ihr Aussehen und verglichen sie mit den Tataren. Dunkle
Haut, den Städten näherten sie sich in langen Karawanen, einige zu Fuss,
andere zu Pferd, mit Wagen voller Gepäck, Frauen und Kinder.
Mitteleuropa erinnerte sich noch gut an die Tatarenangriffe, und die
Roma, sich ihrer Aehnlichkeit mit diesen bewusst, präsentierten sich als
friedfertige Leute und gute Christen.
Verschiedentlich wurden die Roma sogar begrüsst, da sie eine neue
Technologie der Eisen- und Metallbehandlung mitbrachten, neue
Erfahrungen vermittelten und - wenigstens nach ihren eigenen Worten -
vom Grab Gottes kamen. Der mittelalterliche, an einen Ort gebundene
Mensch fasste ihre Wandertätigkeit als Form des Opfers und der Reue auf.
Deshalb betrachtete er die Wandernden als Büsser. Diese Vorstellungen
unterstützten die Roma mit eigenen Legenden. Sie versuchten die Bewohner
der mittelalterlichen Städte zu überzeugen, dass sie mit ihrem Wandern
für die Sünden ihrer Vorfahren büssen müssten, die die Jungfrau Maria
und das Jesuskind auf ihrer Flucht nach Aegypten abgewiesen hätten. Eine
weitere verbreitete Legende besagte, dass die Wanderschaft die Strafe
für die Ablehnung des Christentums sei, und dass sie für diesen Verrat
sieben Jahre lang von Ort zu Ort ziehen müssten.
Im europäischen Umfeld gerieten die Roma in eine besondere Situation, da
ihre informellen Gruppennormen nicht immer mit dem normativen Wertsystem
der Mehrheitsbevölkerung kompatibel waren, und bis heute ist es für sie
schwierig, einen Kompromiss bei der Verbindlichkeit der Verhaltensnormen
zu finden. Der Umgang der Mehrheitsbevölkerung mit ihnen förderte noch
diese Eingeschlossenheit in eine Gruppenwelt, und die abweisende Haltung
gegenüber den Nicht-Roma förderte bis zu einem gewissen Grad die
Solidarität unter den einzelnen Roma-Gruppen.
Die Mehrheitsbevölkerung war und bleibt leider für die Roma eine fremde
Gruppe, die sie in der Vergangenheit mehrheitlich ablehnte, und deshalb
erachten sie sie auch ohne Verlegenheit als Nicht-ihrige, die zu
betrügen und zu bestehlen keine Schande sei.
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