Roma-Generation 2.0: Vom verfolgten Volk zu europäischen Bürgern
Die Wahlen zum Europäischen Parlament im vergangenen Jahr haben
rechtsradikalen Parteien, die Hass gegen Minderheiten schüren, einen
starken Stimmenzuwachs beschert. Mit über zehn Millionen Angehörigen sind
die Roma die größte Minderheit in der Europäischen Union. Das
tschechisch-deutsche Projekt „Roma-Generation 2.0: Vom verfolgten Volk zu
europäischen Bürgern“ will junge Roma motivieren, aus der Rolle der
Diskriminierten auszubrechen und aktiv die Vorteile des vereinten Europas
zu nutzen.
Ein Seminar in der Vertretung der Europäischen Kommission in Prag. 25
junge Roma aus Tschechien und Deutschland diskutieren über die Vorteile
der Europäischen Union. Die Jugendlichen sind zwischen 15 und 25 Jahren
und kommen aus Prag, Písek und Bruntál, die deutschen Teilnehmer aus
Hamburg, Berlin und Freiburg. Das Treffen in Prag ist ihre zweite Begegnung
im Rahmen des Projekts „Roma Generation 2.0“. Martina Horváthová
koordiniert für die tschechische Organisation „Slovo 21“ das Projekt:
„Ziel dieses Projektes ist es, mit jungen Roma und Nicht-Roma darüber
zu sprechen, was es bedeutet, ein aktiver Bürger zu sein. Wir wollen den
jungen Menschen Möglichkeiten aufzeigen, wie sie sich engagieren können.
Wir Roma haben das Recht, alle Möglichkeiten der EU-Mitgliedschaft zu
nutzen – genauso wie alle anderen auch. Roma müssen endlich aufhören,
sich selbst zur diskriminierten Minderheit zu stigmatisieren.“
Ein aktiveres, selbstbewussteres Stellungbeziehen junger Roma in der EU
wünscht sich auch Hamze Bytyci vom Verein RomaTrial, der Berliner
Partnerorganisation von Slovo 21. Bytici lebt seit Anfang der 1990er Jahre
in Deutschland, nachdem seine Eltern mit ihm aus dem Kosovo geflohen waren.
An der gegenwärtigen Europa-Debatte ärgert ihn, dass sie zu stark um
abstrakte Norm-Größen kreise. Statt kulturelle Unterschiede als
Bereicherung für das vereinte Europa zu sehen, würde viele
Entscheidungsträger eine Lanze für größtmögliche Vereinheitlichung
brechen, meint er:
„Wir reden ständig über EU – das ist ja alles vorteilhaft und
positiv. Das Leitthema der EU ist doch: Wir sind alle vereint in Vielfalt.
Aber eigentlich merke ich doch, was die EU die ganze Zeit macht: Nein, die
Gurke hat nur so zu sein, und nein, jenes hat so zu sein. Wenn ich Roma bin
aus Deutschland und die anderen sind aus Tschechien, dann sagen wir ja: In
der EU sind alle gleich. Wir sind dann eine Sauce, die zusammengemischt
wird. Aber das ist das Schlimmste, was man mit unserer Kultur machen kann.
Weil es dann ja gar keine Vielfalt mehr gibt.“
Durch Theaterprojekte, Filme und Blogs möchte Hamze Bytyci die
Jugendlichen aus dem Projekt „Roma Generation 2.0“ dazu anregen,
hörbarer ihre Stimme zu erheben in der Debatte um das gemeinsame Europa.
„Oder einfach die Diskussion ein bisschen anzuregen, dass Menschen, die
der Roma-Minderheit angehören, nicht wirklich vom gemeinsamen Europa
profitieren. So kann beispielsweise eine junge Frau aus Rumänien immer
wieder an irgendwelchen Jugendaustauschprojekten teilnehmen, aber
gleichzeitig hat sie in ihrem Dorf in Rumänien immer noch keinen Strom
oder fließend Wasser.“
Eben das starke soziale Gefälle und die so unterschiedlichen
Lebenswirklichkeiten der Menschen in Europa seien in der Debatte um
Norm-Gurken und Roaming-Gebühren unter den Tisch gefallen, meint Hamze
Bytyci. Dafür hätten die großen Parteien bei den jüngsten Wahlen zum
Europäischen Parlament einen klaren Denkzettel verpasst bekommen:
„Wir sollten uns eigentlich mit der Frage beschäftigen: Warum wählt
Europa so stark rechts? Das ist wichtig. Einerseits ist es ok, wenn ich die
Möglichkeit habe, überall zu studieren. Das ist positiv, ich kann das
für mich als Vorteil nehmen. Aber wenn ich Familie habe und arbeitslos
bin, dann bringt mir die EU nichts. Und die Antwort in Europa darauf ist
sehr sehr stark rechts. Weil die Menschen sagen: Nein, das ist alles
Quatsch.“
Eines der Hauptprobleme für die junge Roma-Generation in Tschechien sind
die extrem ungleichen Bildungschancen. Rund ein Drittel aller tschechischen
Roma-Kinder zum Beispiel landet auf Sonderschulen für geistig behinderte
Kinder und hat damit minimale Chancen auf eine gute Berufsausbildung. Trotz
jahrelanger Diskussionen, trotz mehrfacher Rügen seitens der Europäischen
Union und Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat
sich an dieser Praxis noch nichts Maßgebliches geändert.
Die jetzige Regierung und insbesondere der Minister für Menschenrechte,
Jiří Dienstbier, gibt vielen Roma aber Anlass zur Hoffnung, dass ein
ernstgemeinter politischer Wille besteht, die Segregation im tschechischen
Bildungswesen abzuschaffen. Gesetze allein seien dafür nicht ausreichend
– vor allem in den Köpfen müsse sich etwas bewegen, meint Dienstbier:
„Die öffentliche Debatte hierüber wird schwierig werden. Denn es gibt
in Tschechien keine Einigkeit über das Prinzip der inklusiven Bildung –
weder in der Gesellschaft noch auf politischer Ebene. Es gibt immer noch
eine starke Lobby derjenigen, die den gegenwärtigen Zustand lieber
aufrechterhalten wollen.“
Statt darauf zu warten, bis sich dieser Zustand ändert, sollten Roma
lieber selbst aktiv werden, meint Magdalene Karvanová von der NGO Open
society fund. Sie hat im mährischen Ostrava/Ostrau daher eine Kampagne
initiiert, die Roma-Eltern ermutigen soll sich dagegen zu wehren, dass ihre
Kinder auf Sonderschulen geschickt werden.
„Wir wollen, dass Roma-Eltern selber zu Hauptakteuren werden und für
bessere Bildungschancen ihrer Kinder kämpfen. Durch unsere Kampagne haben
wir es geschafft, ihnen ein größeres Selbstvertrauen zu geben. Als wir
vor der Kampagne die Eltern gefragt haben, welchen Beruf sie sich später
für ihre Kinder wünschen, haben sie gesagt: Ich weiß nicht, sie werden
wohl von Sozialhilfe leben. Und jetzt antworten sie: Mein Kind soll Arzt
werden, oder Jurist. Sie haben höhere Ansprüche und werden selbst
aktiver.“
Vielleicht werden die Kinder dieser Eltern dann einmal ähnlich denken wie
Mirek aus Bruntál. Er ist Maurerlehrling im dritten Jahrgang und
Teilnehmer am Projekt „Roma Generation 2.0“. Durch das Projekt ist ihm
klar geworden:
„Wir Roma wollen, wollen, wollen. Wir wollen dieses und jenes bekommen,
aber sind unfähig, es uns selbst zu erkämpfen. Wir müssen lernen, uns
durchzusetzen. Und nicht rumsitzen und warten, bis uns irgendjemand etwas
gibt. Da können wir ewig warten, wir müssen uns selbst dafür
einsetzen.“
Dieser Beitrag wurde am 12. Juni 2014 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.
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