Familie
26-02-2000
Die Familie spielt im Leben der Roma eine grosse Rolle, denn seit jeher war die Familie das Lebenszentrum, das alle Bedürfnisse befriedigte. Die Roma waren als Fahrende nämlich von der Gesellschaft unabhängig, aber von ihrer Familie oder Gruppe wiederum völlig abhängig. Die Familie war die Quelle der Ernährung, hatte erzieherische, bildende und sozialisierende Funktion, fungierte als Schutz usw. Gerade aus diesen Gründen geht die Identifikation der Roma mit ihrer Familie sehr weit.
Sprechen wir (d.h. Nichtroma) von Familie, verstehen wir darunter unseren Lebenspartner, die Eltern, Geschwister, allenfalls Verwandten, mit denen wir unter einem Dach wohnen. Weitere Verwandte, Tanten, Onkel, Vettern, Cousinen, Nichten und Neffen, Schwiegerväter, -mütter, -töchter und -söhne betrachten wir als entferntere Verwandte, mit denen wir uns nicht so oft sehen. Das Tschechische, im Gegensatz zur Sprache der Roma, hat sogar nicht einmal Wörter für entferntere Verwandte wie beispielsweise die Kinder von Vettern oder Cousinen. Für die Roma sind dies alles nahe Verwandte, mit denen sie in der gleichen Siedlung oder im gleichen Stadtviertel wohnen (physische Nähe) und die mit ihnen nicht nur durch Blutsverwandtschaft, sondern auch durch Familientraditionen und Solidarität verbunden sind.
Ajsi romni kampel, savi moro anel.
Lachi romni kerel jekha konuratar duj.
Eine richtige Frau kann Brot beschaffen.
Eine richtige Frau macht aus einer Krone zwei.
Sprichwort der Roma
In der Familie der Roma existiert, wie auch in tschechischen Familien, eine Teilung der Rollen von Mann und Frau. Die Frauen wurden bei den Roma früher wie heute dazu erzogen, sich um eine Familie sorgen zu können. Die Pflichten der Frau bestanden darin, den Haushalt zu besorgen, die Kinder grosszuziehen und ihrem Mann zu gehorchen. Die Frau hatte oft die wirtschaftlich wichtigere Rolle , denn sie war es, die das Ueberleben der Familie garantieren musste - Essen, Bekleidung. Essen musste sie auf welche Art auch immer besorgen, entweder durch landwirtschaftliche Lohnarbeit für Nicht-Roma (sogenannte "Gadschos"), durch das Sammeln von Waldfrüchten oder durch Betteln. In der Roma-Familie war und ist der Mann nach innen und aussen das Haupt, Träger und Beschützer des Familienprestiges, Entscheidungsträger mit der Verantwortung für die Famlilie. In vielen Familien war der Finanzzufluss des Mannes nur gelegentlichen Charakters, und so verbrachte der Mann die Zeit neben der Arbeitsbeschaffung auch mit der Pflege der Beziehungen zu Verwandten und Freunden sowie der Schlichtung von Streit zwischen Familen usw.
Die Familie festigte und vergrösserte sich durch die Zahl ihrer Kinder. Je mehr Kinder vorhanden waren, desto grösser war das Familienglück; mit der Zahl der Jungen wuchs auch das Prestige, wie ein Roma-Sprichwort besagt: O chave hin zor - In den Jungen ist die Kraft. Als erstgeborenes Kind wünschten sich Neuvermählte immer einen Jungen. Mehrheitlich war dies allerdings der Wunsch des Mannes; den Frauen war dies eher egal, oder sie hofften sogar insgeheim auf ein Mädchen, das ihnen später eine Hilfe im Haushalt wäre. Jedes weitere Kind war höchst willkommen. Für die Erziehung der Kinder war vor allem die Mutter zuständig, doch beteiligte sich daran die ganze Grossfamilie. Die Kinder lebten umgeben von drei bis vier Generationen und ihre Sozialisierung fand in diesem Umfeld statt.
Die gegenseitige Unterstützung bezog sich auf alle Familienmitglieder. Unverheiratete (was heute allerdings selten ist) blieben bei ihren Eltern, Waisen wurden von einer anderen Familie aufgenommen. Für alte Leute, die ein grosses Ansehen genossen, wurde gesorgt, sie wurden aus der Familie nicht ausgeschlossen, und es war völlig undenkbar, dass sie in ein Altersheim gegeben würden, ebenso wie Kinder nie in Kinderheime gegeben oder in Internate geschickt wurden. Auch Kranke blieben nicht allein, auch wenn ein Spitalaufenthalt nötig war, und sogar ein Toter wurde vor dem Begräbnis nicht allein gelassen.
Die Grossfamilie garantierte sozialen Schutz (niemand wurde allein gelassen, alle waren umsorgt), psychologischen Schutz (Probleme wurden zusammen gelöst) und ökonomischen Schutz (Sicherstellung der Ernährung für alle). Die Familie war eine ökonomische Einheit, die zusammenarbeiten musste, denn ein Einzelner würde sich nicht ernähren können. Die Generationen standen in den Familen der Roma zueinander nicht in Opposition, sondern beteiligten sich gemeinsam an der Lebensgestaltung.
|
|