Requiem für Auschwitz in Prag: Sinti- und Roma-Orchester spielt zum
Gedenken an Holocaust-Opfer
Am vergangenen Sonntagabend war im Prager Rudolfinum der Frankfurter
Philharmonische Verein der Sinti und Roma zu Gast. Es ist das einzige
Orchester in ganz Europa, das aus professionellen Sinti- und Roma-Musikern
besteht. Auf dem Programm stand das Stück „Requiem für Auschwitz“,
das von Roger Moreno-Rathgeb komponiert wurde. Es soll an die Opfer des
Nationalsozialismus, insbesondere an die Verfolgung und Vernichtung der
Sinti und Roma erinnern.
Der Konzertsaal Rudolfinum in Prag war am Sonntag bis auf den letzten Platz
besetzt, als Europas einziges Roma-Orchester das „Requiem für
Auschwitz“ aufführte. Den Auftritt in Tschechien hatte die
Nichtregierungsorganisation „Slovo 21“ organisiert. Sie engagiert sich
für die Roma hierzulande. Organisatorin Karla Čížková:
„Das Orchester spielt hauptsächlich in Frankfurt am Main. Die Musiker
stammen aber aus den verschiedensten Ländern. Es sind vorwiegend Roma, vor
allem aus Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien. Geleitet wird das
internationale Ensemble von Riccardo Sahiti, einem Roma-Dirigenten.“
Das Orchester besteht aus 80 professionellen Musikern. Ricardo Sahiti
erzählt, wie er es aufgebaut hat:
„Ich habe überlegt, dass es in den Jahrhunderten noch nie ein
philharmonisches Sinti- und Roma-Orchester gegeben hat - obwohl Dvořák
und Smetana Zigeunerlieder und natürlich slawische Tänze komponiert
hatten, ebenso wie viele andere tschechische und deutsche Komponisten, zum
Beispiel Schumann, Beethoven, Mozart und auch Bach. Diese großen
Komponisten waren inspiriert von der Musik der Sinti und Roma. Die Sinti
und Roma sind Bürger der Europäischen Union, aber haben noch nie
gemeinsam gespielt.“
Riccardo Sahiti selbst stammt aus dem Kosovo, er hat in Belgrad Musik
studiert und ist später dann nach Moskau und Deutschland gegangen. In
Frankfurt am Main hat er an der Hochschule für musikalische Künste beim
tschechischen Dirigenten Jiří Stárek gelernt. Stárek war bis zu seiner
Emigration 1968 Chefdirigent des Prager Rundfunkorchesters.
Nach seiner umfangreichen Ausbildung startete Sahiti das Sinti- und
Roma-Orchester. Mit dem „Requiem für Auschwitz“ und dem Komponisten
Roger Moreno-Rathgeb kam er jedoch erst später in Kontakt:
„Er kam und sagte: ‚Ich habe gehört, du hast ein Orchester, ich werde
ein Werk für dich komponieren.’ Ich habe gesagt: ‚Jaja, ständig
kommen Leute und wollen ein Werk komponieren’. Ich habe das also nicht
ernst genommen. Aber 2008 kam er nach Frankfurt am Main und brachte das
Stück ‚Requiem für Auschwitz’ mit. Daraus ist ein unglaubliches Werk,
ein Werk für die Ewigkeit geworden.“
Karla Čížková von der Organisation „Slovo 21“ beschreibt den
Komponisten des Requiems:
„Roger Moreno-Rathgeb ist ein niederländischer Komponist mit
Roma-Wurzeln. Er war ein Autodidakt, der erst spät Noten lernte und zu
komponieren begann. Eine der Dinge, die ihn interessierten, waren die Opfer
des Holocaust. Also hat er sich entschieden, dazu eine Komposition zu
schreiben. Allerdings hat er sich damit am Anfang sehr schwer getan.“
Wie er auf die Idee kam, ein Musikstück über Auschwitz zu komponieren,
erklärte Roger Moreno-Rathgeb:
„Die Idee ist mir gekommen, als ich 1998 das erste Mal Auschwitz besucht
habe. Als ich dort diesen Horror gesehen habe, dachte ich mir, ich will ein
lebendes Denkmal machen für all die Opfer, die dort gestorben sind. Sie
haben alle in demselben Elend gelebt, sie haben alle dieselben Ängste,
denselben Hunger gehabt und dieselben Schläge bekommen. Sie haben alle
denselben Weg in die Gaskammer gehen müssen, ob sie Juden, Sinti, Roma,
Tschechen oder Polen oder wer auch immer waren. Darum wollte ich ein
lebendes Denkmal für alle Opfer schaffen.“
Allerdings sollte die Fertigstellung des Werkes noch etwas länger dauern:
„Ich bin nach meinem ersten Besuch 1998 nach Hause gegangen und habe
begonnen zu arbeiten. Nach ungefähr fünf oder sechs Monaten war meine
Inspiration plötzlich weg. Ich war leer. Ich dachte dann, vielleicht
müsse ich noch einmal zurück nach Auschwitz. Ich bin dann 1999 wieder
dorthin gefahren, aber das war leider ein Fehler. Ich hatte dann einen
totalen Schock und habe dann sicher sieben Jahre nicht mehr an der
Komposition gearbeitet.“
Rathgeb setzte die Arbeit erst fort, nachdem ihm 2006 der Direktor des
Internationalen Gipsy-Festivals in den Niederlanden versprochen hatte, das
Requiem in verschiedenen europäischen Städten aufzuführen. Bis zur
endgültigen Fertigstellung dauerte es aber trotzdem noch drei weitere
Jahre. Die Premiere des Requiems fand erst 2012 in Amsterdam statt.
Bereits der erste Teil des Requiems vermittelt dem Zuhörer ein Einblick
in die verschiedensten Gefühle, die im Laufe des gesamten Stücks zur
Sprache kommen: Trauer, Hoffnung, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Resignation.
Die Idee, ein Denkmal in Gebetsform zu schaffen, kam dem Komponisten in
seinem Männergesangsverein in Maastricht. Dort wurden häufig kirchliche
Werke gesungen. Da er etwas für alle in Auschwitz verstorbenen Menschen
schaffen wollte, hat Rathgeb lange über die Sprache des Textes
nachgedacht. Deutsch kam als Sprache der Täter nicht in Frage, Romanes
wollte er aber auch nicht verwenden, da er keine Opfer ausschließen
wollte. Nach dem Studium einiger Requien klassischer Komponisten erkannte
er, dass die Texte meist lateinisch verfasst waren. Also schrieb er den
Text in der alten Universalsprache Latein.
Gesungen werden die Texte immer von Opernsängern aus dem jeweiligen
Gastland. Für Tschechien konnten Solisten aus dem Prager Nationaltheater
gewonnen werden: Martin Bárta, Martin Šrejma und Jana Wallingerová. Eine
Rolle wurde von einer besonderen Sängerin übernommen, so Rena
Horvátová, die Pressesprecherin von „Slovo 21“:
„Pavlína Matiová ist die erste Roma überhaupt, die auf der Bühne des
Dvořák-Saals im Rudolfinum auftritt. Ich habe sie gefragt, was ihr der
Auftritt bedeutet. Und sie sagte, dies sei ihr sehr wichtig, weil ein Teil
ihrer Familie ebenfalls im Konzentrationslager umgekommen sei. Es ist also
ein sehr wichtiges und emotionales Erlebnis für sie.“
Die 24-jährige Matiová besucht das internationale Konservatorium in
Prag. Dort hat sie klassischen Gesang studiert und schließt gerade ihr
Studium ab. Im „Requiem für Auschwitz“ singt sie die Sopranstimme. Vor
dem Konzert war sie allerdings noch sehr nervös:
„Ich habe nur drei Jahre am Konservatorium in Prag klassischen Gesang
unter der Leitung von Professorin Eva Zikmundová gelernt. Auch weil ich
ein solch umfangreiches Werk noch nie einstudiert habe, scheint es mir sehr
schwer. Ich bereite mich nun schon fast ein Jahr darauf vor. Mit den
Solisten des Nationaltheaters zusammen zu singen ist für einen 'Laien'
sehr anspruchsvoll, aber es wird wohl klappen.“
Komponist Rathgeb jedenfalls war von der Leistung der jungen Roma-Solistin
beeindruckt und fügte hinzu:
„Ich habe sie ja jetzt auch zum ersten Mal gesehen. Sie ist noch jung,
aber ich finde es sehr schön, dass sich so jemand für ein solches Werk
interessiert und es singt. Vor allem weil sie Roma ist und ein solches Werk
singt, das finde ich super.“
Aber nicht nur die Gesangseinzelleistungen waren ein Erfolg, die gesamte
Aufführung des Requiem wurde vom Publikum begeistert aufgenommen.
Nach der Vorstellung in Prag setzt das Orchester seine Tour in Europa
fort, die nächsten Stationen sind Ungarn und Polen.
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