Roma-Kinderzentrum „Ambrela“: erfolgreich gegen Armut und
Bildungsdiskriminierung
Nordböhmen ist das so genannte soziale Pulverfass Tschechiens. Dort liegt
auch Schluckenau. In der kleinen Stadt eskalierten im Sommer 2011 die
Anfeindungen gegen ansässige Roma. Es kam zu Prügeleien, Bedrohungen und
Aufmärschen. Nach aktuellen Schätzungen gehören rund 700 der 5600
Einwohner Schluckenaus der Roma-Minderheit an. Doch die Minderheit sieht
sich in Tschechien nicht nur mit rassistischen Ausschreitungen
konfrontiert, sondern auch mit Armut und einer versteckten Diskriminierung
durch die Mehrheitsbevölkerung, zum Beispiel im Schulwesen. Dagegen
kämpft unter anderem das Kinderzentrum „Ambrela“ seit rund einem Jahr
an - mit ersten Erfolgen. Zu Besuch in Schluckenau.
Ein ganz normaler Dienstagnachmittag bei „Ambrela“ in Schluckenau. In
dem weißen Haus, keine fünf Minuten vom Marktplatz entfernt, tobt das
Leben. „Ambrela“ heißt „Regenschirm“ auf Romanes, der Sprache der
Roma. Und tatsächlich sammeln sich in dem Haus die Kinder wie unter einem
Regenschirm: Knapp 30 sind es, die sich in der Zweizimmerwohnung im ersten
Geschoss drängen, alle zwischen sechs und zwölf Jahre alt. Das
Kinderzentrum steht allen interessierten Kindern offen – zum Spielen,
Ausruhen und Lernen. Eva Habel hat „Ambrela“ gegründet.
„Wir haben hier überwiegend Roma-Kinder, aber nicht nur. Vor allem
kommen Kinder aus armen und ärmsten Verhältnissen hierher, die natürlich
nicht die Unterstützung haben, die sie bräuchten, um eine gerechte Chance
zu bekommen.“
„Bildungsdiskriminierung“ nennt sich das Schlagwort. Dieses Phänomen
sorgt überall in Mittelosteuropa dafür, dass bestimmte ethnische oder
soziale Minderheiten dort bleiben, wo sie sind: am Rande der Gesellschaft.
Die Tschechische Republik ist dabei keine Ausnahme. Vor allem Angehörige
der Roma-Minderheit werden gern in so genannte „praktische Schulen“
geschickt – die sollen aber eigentlich Kindern mit Behinderungen und
Lernschwächen helfen. Darum ist der Lehrplan dort reduziert, wie auch die
Menschenrechtsorganisation European Roma Rights Center in ihrem aktuellen
Bericht über Tschechien schreibt:
„Normale Klassen haben in der Woche neun Stunden Tschechisch, aber die
Schüler in ‚praktischen Klassen‘, die einem reduzierten Stundenplan
folgen, haben nur sieben Stunden. Ähnlich ist es bei Mathematik: In
normalen Klassen gibt es fünf Stunden in der Woche, ihre Mitschüler in
‘praktischen’ Klassen bekommen nur vier Stunden. Andererseits haben die
Schüler von ‚praktischen’ Schulen mehr Sport.”
Auch in Schluckenau gibt es eine solche Spezialschule. Pavel Procházka
ist der Pfarrer der kleinen Stadt und leitet außerdem die Roma-Seelsorge
für ganz Tschechien. Er kennt die Sorgen und Nöte der Minderheit vor Ort
und hat sich deswegen auch die „praktische Schule“ in Schluckenau zum
Tag der offenen Tür angesehen.
„Ich glaube, dass die Roma-Kinder dort nicht genug Freiraum bekommen, um
sich zu entfalten. Außerdem wird ihre spezielle Lage nicht
berücksichtigt. Unser Ministrant Tomáš macht beispielsweise jedes Jahr
dasselbe in dieser Schule. Das ist nicht wirklich interessant, es mangelt
an Kreativität, und die Kinder freuen sich deswegen nicht auf die Schule.
Darum gehen sie nicht hin. Aber zu uns kommen die Kinder gern, obwohl sie
in der Kirche frieren. Sie müssen einfach beschäftigt werden. Comenius
betrachtete die Schule ‚als ein Spiel‘. Das fehlt den Roma-Kindern
hier. Die Mentalität der Roma muss berücksichtigt werden. Aber die Lehrer
kennen sie oft nicht und verstehen die Kinder darum oft nicht.“
Mit den ‚praktischen Schulen’ hat sich auch der tschechische
Ombudsmann Pavel Varvařovský beschäftigt. Im vergangenen Sommer
präsentierte er erschreckende Zahlen: Obwohl die Roma-Minderheit in
Tschechien nur 1,4 bis 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, sind
fast ein Drittel der Schüler an Sonderschulen Roma. Zwei der Schützlinge
von Eva Habel besuchen die Spezialschule in Schluckenau, die anderen -
meistens noch Grundschüler – kämpfen dagegen an, dort zu landen. Das
Kinderzentrum unterstützt sie dabei:
„Wir haben ein Programm, bei dem die Kinder ein Essen in der
Schulkantine bekommen, aber dann verpflichtet sind, anschließend zu uns zu
kommen und die Hausaufgaben zu machen. Wir machen also praktisch eine
Hausaufgabenbetreuung.“
Zehn Kinder sitzen an dem großen Tisch in der Mitte eines Raumes und
versuchen zu lernen. Die anderen spielen bereits nebenan. Vier Angestellte
sind zu wenig für eine intensive Betreuung und so viele Kinder, findet Eva
Habel– deswegen dürfen nur am Dienstag alle Kinder kommen. Am Montag
sind nur die Mädchen da, am Mittwoch dafür die Jungs. Dennoch ist es hier
eigentlich zu laut zum lernen - das Hausaufgabenprogramm erntet trotzdem
erste Erfolge:
„Durch einen neuen Mitarbeiter haben wir jetzt auch sehr gute Kontakte
zur Schule, so dass wir in engem Austausch darüber stehen, wie sich die
Kinder entwickeln und was man mit ihnen speziell üben sollte. Bei fast
allen sind ganz deutliche Fortschritte zu sehen, sowohl was die
Konzentration betrifft, als auch die Leistungen in der Schule. Das sagen
auch die Lehrer.“
Ivana ist zwölf und damit eine der Ältesten im Kinderzentrum. Sie ist
für ihr Alter recht groß, aber dafür etwas schüchtern. Auch Ivana
profitiert von der Hausaufgabenbetreuung:
„Das hilft mir sehr, vor allem weil ich in Mathe nicht gut bin.“
Für das Hausaufgabenprogramm sammelt ein bayerischer Pfarrer Geld;
verschiedene Einrichtungen und Privatpersonen aus Deutschland unterstützen
das Kinderhaus finanziell. Davon können mittlerweile drei Angestellte
bezahlt werden. Auch das Haus, in dem seit Januar 2012 „Ambrela“
untergekommen ist, wurde von deutschen Spenden gekauft. Vom tschechischen
Staat bekommt das Projekt hingegen kaum finanzielle Hilfe: Einzig eine
Halbtagsstelle bezahlt das Bildungsministerium, für die Betreuung von
einigen Vorschulkindern am Vormittag. Dabei hatte Premier Nečas nach den
rassistischen Unruhen im Sommer 2011 versprochen, sich besonders dafür
einzusetzen, Kinder von sozial schwachen Familien zu fördern und von der
Straße zu holen.
„Gerade jetzt nach den Unruhen gibt es Einrichtungen, die nur auf der
Welle reiten und Fördergelder absahnen möchten. Aber die Menschen merken
ganz deutlich, bei wem das Interesse echt ist und wem es nur ums Geld geht.
Wir selbst hatten das Pech, dass wir erst im Juni 2011 gegründet wurden.
Es gibt die Vorschrift, dass eine Einrichtung erst ein Jahr existieren
muss, bevor sie unterstützt wird.“
Nicht nur von der Regierung, auch von der tschechischen Bevölkerung kommt
wenig Hilfe, hat Pfarrer Pavel Procházka bei seinem jahrelangen Engagement
festgestellt:
„Wenn wir den Roma helfen, wecken wir damit keine Begeisterung bei der
Bevölkerung, sondern werden von den Menschen kritisiert. Es gibt allgemein
einen latenten Rassismus – die Menschen wollen den Roma nicht helfen und
richten sich nach dem Motto ‚Je schlechter für die Roma, desto
besser’. Ich muss sagen, die Roma sind sehr naiv und glauben oft den
verschiedenen Tricks von uns Weißen, die sie missbrauchen, anstatt ihnen
zu helfen.“
Meist ist es ein Teufelskreis aus Armut und Ablehnung, mit dem die Roma
konfrontiert sind. Durch die armen Verhältnisse, in denen die Kinder
aufwachsen, kennen sie beispielweise nicht die gleichen Spielzeuge wie ihre
tschechischen Mitschüler. Hinzu kommt ein fehlendes Bewusstsein der Eltern
für Bildung – und die generelle Unterschätzung der Leistungsfähigkeit
der Kinder durch die Mehrheitsbevölkerung. Das verwehrt ihnen den Zugang
zu guten Schulen, ihre Chancen später einen Beruf zu ergreifen und sozial
aufzusteigen mindern sich. Und wahrscheinlich werden ihre Kinder deswegen
wieder in Armut aufwachsen. Doch der Widerstand gegen diese
Ungleichbehandlung wächst, auch bei der Minderheit selbst. So
protestierten sie beispielsweise im November in Ostrava / Ostrau gegen
Bildungsdiskriminierung. Tatsächlich gaben die Roma der
mährisch-schlesischen Stadt bereits früher den Impuls dazu, auf das
Phänomen Bildungsdiskriminierung aufmerksam zu machen. Im Jahr 2000 zogen
18 Roma vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und klagten
dagegen, dass sie bei der Ausbildung benachteiligt wurden. Die Entscheidung
fiel erst sieben Jahre später – das Gericht gab den Klägern schließlich
Recht. Das Urteil wurde zum Präzedenzfall für ganz Mitteleuropa.
Allerdings:
„Fünf Jahre nach der Entscheidung ist die Situation der Roma-Kinder in
Tschechien weitestgehend unverändert geblieben.”
, so ein Bericht des ERRC vom November 2012. Geändert hat sich in
Tschechien eigentlich nur der Name der Spezialschulen. Seit 2005 heißen
sie „praktische Schulen“, das Konzept ist das gleiche. Das
Sonderschulsystem wollen auch viele tschechische Eltern beibehalten. Sie
lehnen die Integration von Kindern aus sozial schwachen Familien ab. Rund
21.000 Mütter und Väter unterschrieben eine Petition für den Erhalt der
Sonderschulen - aus Angst, ihre eigenen Kinder könnten in gemeinsamen
Schulklassen mit Roma weniger lernen. Eva Habel möchte hingegen wirklich
etwas ändern und bemüht sich darum auch um ein Umdenken in der
Gesellschaft. Für die Pastoralassistentin ist das Kinderzentrum ihre
Berufung. Mittlerweile setzt sie auf Nachhaltigkeit:
„Ich habe am Anfang gedacht, dass ich irgendwie aus der Ferne oder im
Urlaub helfen kann. Aber es war zu merken, dass es überhaupt nichts
bringt, wenn man nur für ein oder zwei Wochen da ist.“
Seit vier Jahren lebt Habel nun in Schluckenau und kümmert sich
persönlich um „Ambrela“. 2013 wird das Projekt weiter ausgebaut. Am
Vormittag soll eine Art Montessori-Kindergarten entstehen, um den Kindern
Selbstständigkeit beizubringen und sie so besser auf die Schule
vorzubereiten. Das Kinderzentrum wird außerdem als „barrierefreier
sozialer Dienst“ angemeldet und kann so auf staatliche Fördergelder
hoffen. Damit einher geht auch die intensive Arbeit von einem
Sozialarbeiter mit den Kindern:
„Es werden dann mit den Kindern auch Verträge abgeschlossen und
Gespräche darüber geführt, was sie hier machen und erreichen möchten.
Daraus ergibt sich für jedes Kind ein individueller Plan.“
Viel Arbeit für die insgesamt vier Angestellten, aber auch die Kinder bei
„Ambrela“. Dabei soll das Kinderzentrum auch Spaß machen. An diesem
Dienstag basteln einige der Schützlinge von Eva Habel in der Pfarrei.
Die Kinder bauen Häuser für eine Weihnachtskrippe. In dem kleinen
Pfarrsaal hocken sie auf dem Boden und ritzen Fenster und Türen in graue
Specksteinblöcke. Nachher werden die Blöcke noch angemalt. Ivana ist auch
mit dabei:
„Seit zirka anderthalb Jahren gehe ich in das Kinderzentrum und zur
Kirche. Mir gefällt es hier sehr gut. Wir malen hier viel und das gefällt
mir. Außerdem übe ich gerne Flötespielen, gehe gerne in die Kirche und
mag Singen“, erzählt die Zwölfjährige. Fröhlich stimmt sie mit ihrer
besten Freundin ein Lied auf Romanes an, um das Basteln unterhaltsamer zu
machen.
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