„Porajmos“ – Der Holocaust an den Roma im Protektorat Böhmen und
Mähren
„Porajmos“ ist Romanes und bedeutet in etwa „Das Verschlingen“. Es
ist die Bezeichnung für den Völkermord an den europäischen Roma in der
Zeit des Nationalsozialismus. Während der deutschen Besatzungszeit wurden
die Roma auch im Protektorat Böhmen und Mähren verfolgt. Besonders
schlimm wurde es nach dem 9. März 1942. Die Protektoratsregierung
übertrug ein Gesetz aus dem Reich auf die ehemalige Tschechoslowakei: den
Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Unter diesem
Deckmantel kämpfte das NS-Regime gegen alle so genannten „asozialen“
Elemente. Es war der Startschuss für die rassische Kategorisierung der
Roma und ihre Deportation nach Auschwitz.
Für die Nationalsozialisten war es klar: Die Roma waren arbeitsscheue
Asoziale. Sie konnten ohne richterlichen Beschluss in Schutzhaft genommen
werden und durften auf unbegrenzte Zeit in Konzentrationslager eingewiesen
werden. Im Protektorat Böhmen und Mähren wurden diese Maßnahmen
besonders drastisch umgesetzt. Nach dem Krieg kehrten nur 583 tschechische
Roma aus den Konzentrationslagern der Nazis zurück. Michal Schuster ist
Historiker am Museum für die Kultur der Roma in Brno:
„Wir können festhalten, dass 90 Prozent der ursprünglichen
Roma-Bevölkerung in Böhmen und Mähren während des Zweiten Weltkriegs
massakriert wurde. Und der prozentuelle Anteil von Betroffenen einer
einzelnen Volksgruppe ist einer der höchsten in ganz Europa.“
Die Schikanierung der Roma begann aber bereits vor der deutschen
Besatzung. Schon die Regierung der Tschechoslowakei hatte ein spezielles
„Zigeuner-Gesetz“ erlassen. Schuster erklärt, worum es dabei im
Einzelnen ging:
„Dieses Gesetz wurde von der Tschechoslowakischen Regierung im Jahr 1929
verabschiedet, nachdem es einige Jahre vorbereitet worden war. Zweck war
es, das Umherziehen der Roma in der Tschechoslowakei zu registrieren und in
einem gewissen Rahmen zu korrigieren.“
In diesem Gesetz wurde auch der Begriff Zigeuner definiert: Als Zigeuner
galt jeder, der nach Art der Zigeuner lebte. Die Art der Zigeuner war es
also, herumzuziehen und typischen Tätigkeiten nachzugehen, wie der des
Kesselschmieds, Puppenspielers, Musikers, Pferdehändlers oder im Zirkus zu
arbeiteten. Aber im Gesetz wurden auch weitere Maßnahmen festgeschrieben:
„Das Gesetz sollte die Art des sozialen Lebens ändern. Es bedeutete
einen großen Einschnitt für diese soziale Gruppe. Laut Gesetz wurde ihnen
eine so genannte Zigeuner-Legitimation ausgestellt und sie wurden in einem
zentralen Register in Prag geführt. Und diesen Menschen wurde der
Aufenthalt an bestimmten Plätzen im Land verboten. Sie durften nicht in
die Hauptstädte der historischen Landesteile reisen, nicht in die
Kurbäder und nicht in das Grenzgebiet.“
Dieses Register erleichterte später den deutschen Besatzern die
Verfolgung der Roma. Zunächst wurden Arbeitslager eingerichtet: 1940
entstand das Arbeitslager Lety bei Písek in Südböhmen sowie ein weiteres
Lager in Hodonín in Mähren. Beide wurden von der Protektoratsverwaltung
finanziert und von Tschechen bewacht. Eingewiesen wurden
„Müßiggänger“, Spieler, Bettler und „umherziehende Zigeuner“.
Zwischen 1940 und Ende 1941 betrug der Anteil von Menschen im Lager Lety,
die als Zigeuner bezeichnet wurden, etwa 13 Prozent. Nachdem 1942 der
Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung aus dem Reich in die
Rechtssprechung des Protektorats übernommen wurde, änderte sich die
Politik:
„Ab der Mitte des Jahres 1942 wurden die Roma nun rassisch
kategorisiert. Das bedeutete, dass ein Verzeichnis von Zigeunern und so
genannten Zigeunermischlingen angelegt wurde. Auf diese Weise hat man 6500
Personen auf dem Gebiet des Protektorats erfasst. Etwa ein Drittel von
ihnen wurde sofort in den Zigeunerlagern Lety und Hodonín interniert.“
Seit dem Sommer 1942 wurden die Lager nicht mehr als Arbeitslager geführt
sondern in reine „Zigeunerlager“ umgewandelt. Der Historiker Schuster
beschreibt die Umstände im Lager Lety, unter denen die Menschen leben
mussten:
„Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das Lager für etwa 300
Menschen konzipiert wurde. Einige Wochen nach dem Beginn der Internierung
im Sommer 1942 befanden sich in Lety aber bereits mehr als 1000 Menschen.
Alleine aus diesen Kapazitätsgründen kann man sich vorstellen, dass das
Leben dort sehr schwer war. Hinzu kamen eine schlechte Verpflegung, geringe
hygienische Standards und harte körperliche Arbeit, zehn Stunden täglich
im Steinbruch, bei Straßenbauarbeiten oder beim Holzschlag im Wald. Das
alles führte zu Unterernährung, Krankheit und einer hohen Sterblichkeit
vor allem älterer Leute und Kinder.“
Marie Kormanová ist sieben Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihren
Geschwistern in ein ähnliches Lager in Dubnica nad Váhom in der Slowakei
kommt. Sie erinnert sich an die Ankunft im Lager:
„Sie führten uns mit Maschinengewehren dorthin. Ich erinnere mich noch
wie heute, es waren solch niedrige, längliche Baracken mit Etagenbetten
aus denen uns Köpfe anschauten. Wir waren dort so viele, einer neben dem
anderen, es war dort keine Ecke mehr frei. Die Männer waren auf der einen
Seite, und die Frauen mit den Kindern auf der anderen Seite und dort haben
sie uns vom Vater getrennt.“
Die Bedingungen im Lager führten schnell zu Krankheiten, wie Marie
Kormanová erzählt:
„Wir haben dann Typhus bekommen. Sie sagten, sie bringen uns ins
Krankenhaus. Sie führten also meinen Bruder, meinen Vater und und andere
ab. Und sie kamen tatsächlich ins Krankenhaus. Dann kehrten sie zurück
und nahmen eine zweite Fuhre mit. Die führten sie ein Stück weg vom
Lager, schossen sie nieder und warfen sie in eine Grube. Dort starb der
Vater meines Schwiegervaters, seine Schwester und der Schwager.“
Die Zustände in den „Zigeunerlagern“ waren bereits schlimm, dann aber
begann der systematische Transport der Roma nach Auschwitz. Während des
gesamten Jahres 1943 und noch im Jahr 1944 werden mehr als 5500 Roma aus
dem Protektorat nach Auschwitz deportiert. Dort hatten die Nazis ein
besonderes Lager vorbereitet, erklärt Historiker Schuster:
„Das so genannte Zigeuner-Familienlager wurde in einem besonderen Teil
von Auschwitz-Birkenau errichtet. Der Unterschied war, dass im Gegensatz zu
den anderen Teilen des Lagers hier Männer und Frauen zusammen
untergebracht waren. Dieses Lager war für die Roma bestimmt, die
systematisch zur Arbeit ausgenutzt wurden. Sie wurden in Frauen und Männer
aufgeteilt, weil jede Gruppe eine andere Art von Arbeit erledigen
musste.“
Oftmals war dies aber völlig sinnlose Arbeit, wie zum Beispiel Steine vom
einen Ende des Lagers in das andere Ende zu tragen. Die Lebensbedingungen
waren auch hier katastrophal. Die medizinische Versorgung war marginal, die
hygienischen Zustände schlimm und die Menschen litten Hunger. Dies führte
zu einer hohen Sterblichkeit, zu der auch die medizinischen Experimente von
Dr. Josef Mengele kamen.
Als die Ostfront näher rückte, wurde das Lager evakuiert. Die noch
arbeitsfähigen Roma wurden nach Westen getrieben und die verbliebenen
Menschen erwartete der Tod, wie Michal Schuster erklärt:
„Im Lager in Auschwitz blieben etwa 3000 gefangene Roma. Es waren vor
allem Kranke, Alte, Frauen und Kinder. Es wurde bestimmt, dass alle
liquidiert werden sollten, damit die vorrückende Rote Armee sie nicht
befreien kann. In der Nacht auf den 3. August 1944 vergaste man alle
verbliebenen 3000 Roma und verbrannte sie in den Krematorien von Auschwitz.
Die Befreiung des Lagers, zu der es im Januar 1945 kam, hat niemand aus dem
Romalager erlebt.“
Nach dem Krieg wird das Gesetz aus der Ersten Tschechoslowakischen
Republik aufgehoben und den Roma ist es wieder erlaubt, sich frei im Land
zu bewegen. Vor allem aus der Slowakei wandern nach dem Krieg viele in die
böhmischen Grenzgebiete ein. Dort gibt es nach der Vertreibung der
Deutschen viel Wohnraum und überall werden aufgrund der forcierten
Industrialisierung Arbeitskräfte gesucht. Die Kommunisten erklären zudem
nach ihrer Machtübernahme die Freiheit aller Einwohner. Michal Schuster
weist aber darauf hin, dass die neue Freiheit nicht lange währte:
„Im Jahr 1958 wurde erneut ein Gesetz verabschiedet, welches das
Herumziehen verbot. Im Gesetzestext entdeckt man zwar weder das Wort
Zigeuner noch Roma, es war aber klar, gegen wen es sich richtete. Jeder
totalitäre Staat fürchtet Personen, die nicht zu fassen sind und sich
frei durch die Welt bewegen und Ursache für Probleme sein könnten. Also
genauso wie das Herumziehen in der Nazizeit verboten war, war es auch in
der kommunistischen Zeit verboten. Erlaubt war es erst wieder, nachdem das
kommunistische Gesetz in den 1990er Jahren abgeschafft wurde.“
Im Jahr 2010 wurde die umgebaute Gedenkstätte für die Opfer der Roma in
Lety neu eröffnet. Vorausgegangen war eine lange Debatte, in der sich das
schwierige Verhältnis der Tschechen zu ihren Roma-Mitbürgern spiegelte.
Sogar Staatspräsident Václav Klaus hatte im Laufe der Debatte behauptet,
es habe sich bei Lety gar nicht um ein Konzentrationslager „im
eigentlichen Sinne“ gehandelt. Die Demonstrationen gegen die Roma in
Nordböhmen aus dem Sommer 2011 zeigen, dass eben diese schwierige
Beziehung sich noch immer nicht entspannt hat.
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