„Eine ganz normale Kneipenschlägerei auf dem Land“ – Die Unruhen in
Nordböhmen
Bereits das vierte Wochenende in Folge hat es im so genannten Schluckenauer
Zipfel Demonstrationen gegeben. Der Zipfel ist eine kleine Region an der
Grenze zu Sachsen. Die Städte Šluknov / Schluckenau, Varnsdorf /
Warnsdorf und Rumburk / Rumburg liegen in diesem Gebiet und bilden die
Zentren der Unruhe. Die Bürger demonstrieren nicht etwa gegen ausufernde
Korruption oder die angekündigten Sozialreformen, sie gehen gegen die
Minderheit der Roma auf die Straße. Bereits mehrfach musste die Polizei
eine wütende Menschenmenge davon abhalten, von Roma bewohnte Häuser zu
stürmen. In unserem Forum Gesellschaft werfen wir einen Blick hinter die
Kulissen der Ausschreitungen.
Am Samstag, dem 12. September, endete eine Kundgebung auf dem Marktplatz
der Stadt Varnsdorf. Nachdem der Redner fertig war, formierte sich ein
Protestzug, der von ein paar hundert Neo-Nazis angeführt wurde und dem
sich die örtliche Bevölkerung anschloss – unter ihnen viele junge
Leute. Auf dem Weg zu einem Wohnheim, in dem Roma leben, eskalierte die
Situation schließlich. An einer Brücke stoppte die Polizei den Mob mit
einem Wasserwerfer und trieb die Menge mithilfe von Schlagstöcken und
Pferden auseinander.
Seit mehr als drei Wochen nun finden jedes Wochenende solche Märsche
statt. Doch warum demonstrieren die Tschechen, die sonst eher selten ihren
Unmut auf der Straße ausdrücken?
Begonnen haben die Proteste, nachdem am 20. August eine Gruppe Roma in
Rumburk mehrere Menschen auf dem Weg von der Disko nach Hause überfallen
und zusammengeschlagen hatte. Vorher hatten bereits in Nový Bor / Haida
mit Macheten bewaffnete Roma eine Spielhalle überfallen. In den Medien
wurde daraufhin von „Übergriffen mit rassistischen Untertönen“
gesprochen, von einer Eskalation der schon lange bestehenden Spannungen im
Schluckenauer Zipfel aufgrund gestiegener Kriminalität. Markus Pape,
Mitbegründer der Initiative „Hass ist keine Lösung“, Beobachter für
das European Roma Rights Center und Kenner der Verhältnisse in Varnsdorf,
stellt die Situation anders dar:
„Sowohl die Polizei als auch der Bürgermeister von Varnsdorf leugnen,
dass es in der Stadt zu einer gestiegenen Kriminalität in der letzten Zeit
gekommen sei. Die beiden bekannten, so genannten Massaker, waren lokale
Konflikte. Einmal in einer Spielhalle und dann in Rumburk, in der Nähe
einer Diskothek, am frühen Morgen. Den neuesten Informationen zufolge war
weder der eine noch der andere Fall rassistisch bedingt, sondern es waren
einfache Kneipenschlägereien, von denen es in der Republik jedes Jahr
Hunderte gibt.“
Über die Vorfälle in Rumburk hat Martin Demeter von der örtlichen
Roma-Vereinigung Ähnliches zu berichten:
„Das was dort passiert ist, diese Prügelei, das war meiner Meinung nach
eine ganz normale Kneipenschlägerei auf dem Land und man hat daraus einen
rassistischen Übergriff gemacht. Hier muss betont werden, dass es keine
rassistischen Untertöne gegeben hat. Die eine Seite hat gerufen ´Ihr
Zigeuner´ und die andere ´Ihr Tschechen´, und dann haben sie sich
geschlagen. Und die Medien haben dann daraus einen rassistischen
Zwischenfall gemacht.“
Also gibt es keine gestiegene Kriminalität im Schluckenauer Zipfel? Jan
Černý von der Menschenrechtsorganisation „Člověk v tísni“ (Mensch
in Not) und langjähriger Streetworker bringt etwas Licht ins Dunkel: Es
handele sich dabei oft um Kleinkriminalität. Diese werde von den Behörden
nur als Ordnungswidrigkeit behandelt, nicht als Straftat, und daher nur mit
Geldstrafen geahndet. Die Menschen vor Ort fühlen sich aber von
gestohlenen Dachrinnen und Kanaldeckeln, von aufgebrochenen Autos oder
abgeholzten Bäumen belästigt und bedroht. Eine Lösung dieses Problems
könnte laut Černý sein, diese Kleinkriminalität systematisch
auszutrocknen, indem die Hehler konsequenter verfolgt würden. Martin
Demeter aus Rumburk hat noch eine andere Idee:
„Wenn zwei Polizisten kämen und einer davon wäre ein Roma, dann
hätten sie den Respekt der anderen Roma und die Kriminalität wäre sicher
geringer. Dies müsste natürlich ein ehrlicher und respektierter Roma
sein. Wenn aber dieser Roma zu den anderen Roma käme und sie beschimpfen
würde, wäre es kein rassistischer Zwischenfall.“
Als ein weiterer Grund für die Probleme der wenig integrierten
Roma-Minderheit wird in den Medien und von den Politikern immer die
Ghettoisierung genannt. Die Lokalpolitiker im Schluckenauer Zipfel gaben an,
über einen längeren Zeitraum seien vermehrt Roma aus der ganzen Republik
in ihre Gemeinden gezogen. Markus Pape meint dazu:
„Also nach den Informationen, die wir haben, trifft dieser weitere
Mythos auf jeden Fall nicht auf die Stadt Varnsdorf zu. Dort handelte es
sich um eine kreisinterne oder sogar stadtinterne Migration. Vor einigen
Monaten sind auf rätselhafte Weise zwei Häuser in Flammen aufgegangen und
die Bewohner dieser Häuser haben Unterschlupf in einem dieser beiden
Zielobjekte dieser Hassmärsche gefunden, in einem Wohnheim namens Hotel
´Sport´.“
Trotzdem leben die Roma häufig in Siedlungen oder Herbergen unter sich.
Das liegt zum einen am besonders engen Zusammenhalt der Familien, aber
natürlich auch daran, dass über 80 Prozent der tschechischen Bevölkerung
keine Roma als Nachbarn und Vermieter keine Roma als Mieter haben möchten.
Von den Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, berichtet die Mutter einer
Roma-Familie mit fünf Kindern aus Varnsdorf:
„Sehr lange haben wir nichts gefunden. Oft hat man uns am Telefon
gesagt: ´Ja, die Wohnung ist frei´. Wenn wir dann aber kamen und die
Leute gesehen haben, dass wir Zigeuner sind, haben sie uns abgelehnt und
gesagt, es wäre schon vergeben.“
Natürlich haben Geschäftleute dies als Marktlücke entdeckt. Sie kaufen
leerstehende Häuser oder Herbergen auf und vermieten sie zu überteuerten
Preisen an Roma, die sonst keine Möglichkeiten der Unterbringung finden.
Die Mieten erhalten diese Vermieter dann direkt vom Staat, der
Wohnunterkünfte für Roma über das Wohngeld finanziert. In einer solchen
Herberge wohnte auch die Roma-Familie aus Varnsdorf:
„Es kostete 13.000 Kronen (etwa 520 €). für eine Einraumwohnung mit
Küche. Dort gab es aber nur ein Zimmer mit einem Schrank, einem Bett,
einem Tisch und einem Fernseher. Das war alles.“
Markus Pape erklärt am Beispiel Varnsdorf, dass diese Praxis aber nicht
nur von zwielichtigen Geschäftemachern betrieben wird:
„Eines der beiden Wohnheime gehört der Stadt, dort trifft es zu, dass
die Mieten horrend sind. Aber das kann die Stadt oder die Einwohner sich
erlauben, weil diese Mieten zum großen Teil durch das Wohngeld finanziert
werden, und zwar vom Staat.“
Die Kommunen lassen sich also über die Unterbringung von Roma durch das
Wohngeld auf eine gewisse Art quersubventionieren. Markus Pape sieht in
dieser Praxis Vor- und Nachteile:
„Natürlich liegt da eine Gesetzgebung zugrunde, die es Vermietern
ermöglicht, höhere Mieten von den Mietern zu verlangen und diese dann
über das Wohngeld finanzieren zu lassen. Diese Gesetzgebung ist
entstanden, um Wohnraum für Roma zu schaffen. Wir wissen ja, dass 85
Prozent der tschechischen Bevölkerung keinen Roma als Nachbarn haben
möchte. Wir können auch verstehen, dass es über eine solche Gesetzgebung
ermöglicht wurde, dass überhaupt Wohnraum für Roma gefunden wird.“
Dass alle Roma faul seien und nicht arbeiten wollen, ist ein weiteres
Vorurteil, das die meisten Menschen hegen. So wurden dann auf den
Demonstrationen auch immer wieder Parolen wie „Romové do práce“, also
„Roma zur Arbeit“ gerufen. Und dass, obwohl die Arbeitsmarktsituation
in Nordböhmen katastrophal ist und die meisten Demonstranten selber keine
Arbeit haben. Markus Pape bestätigt dies:
„Dieser Mob, der sich da jede Woche auf der Straße bewegt und versucht,
diese Wohnheime anzugreifen, der besteht zum Großteil aus Leuten, die
selber ihre Arbeit verloren haben, die Angst haben ihre Arbeit zu verlieren
oder die einfach genauso sozial bedroht sind, wie auch die Einwohner der
Wohnheime. Das bedeutet, jemand hat es geschafft, die einen Armen gegen die
anderen Armen aufzuhetzen.“
Martin Demeter aus Rumburk sieht nicht, dass die Roma im Schluckenauer
Zipfel arbeitsscheu oder faul wären:
„Hier im Schluckenauer Zipfel gibt es insgesamt viel weniger Roma als
Tschechen. Hier gibt es eine große Arbeitslosigkeit und trotzdem haben die
Roma Arbeit. Sie arbeiten und leben anständig.“
Nun wurde erst einmal Bereitschaftspolizei in die Gegend geschickt, um die
Ordnung wiederherzustellen. Arbeits- und Sozialminister Jaromír Drábek
kündigte an, 100 gemeinnützige Stellen zu schaffen, und die Regierung
legte einen Zehn-Punkte-Plan zur Bekämpfung der Ghettobildung vor. Bei
seinem Besuch am Montag im Schluckenauer Zipfel machte der Premier klar, in
welche Richtungen seine Ideen zur Lösung der Situation gehen:
„Ich sehe den Schlüssel darin, die Auszahlung von Sozialhilfe an
öffentliche Arbeiten zu koppeln. Es gibt immer etwas zu tun bei der
Verbesserung unserer Gemeinden und Städte.“
Arbeits- und Sozialminister Drábek ergänzt:
„Das bedeutet, wer auf dem Arbeitsmarkt keine Arbeit finden kann, wird
20 Stunden die Woche eine für die Öffentlichkeit sinnvolle Arbeit
verrichten.“
Roma-Aktivisten begrüßen grundsätzlich die Bemühungen, mehr
Arbeitsplätze zu schaffen – eine Entwicklung, die sicherlich für alle
Menschen in Nordböhmen wünschenswert wäre. Die Lösung der Probleme in
Nordböhmen wird also nicht einfach nur auf ein paar Maßnahmen bei der
Vergabe von Sozialhilfe zu beschränken oder durch die Stationierung von
zusätzlicher Polizei zu erreichen sein.
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