Ethnische Spannungen in Nordböhmen: Premier besucht Schluckenauer Zipfel
Seit einigen Wochen ist die Lage zwischen der Roma-Minderheit und der
Mehrheit aus Nicht-Roma im so genannten Schluckenauer Zipfel sehr
angespannt. Bewohner der Stadt Varnsdorf / Warnsdorf haben sich zum
wiederholten Mal an rassistischen Demonstrationen beteiligt, zuletzt am
vergangenen Samstag. Auf der anderen Seite sollen angeblich Gangs junger
Roma die Menschen bedrohen. Hintergrund ist eine Ghettoisierung von Roma.
Am Montag nun haben sich Premier Petr Nečas und Arbeits- und
Sozialminister Jaromír Drábek bei einem Besuch vor Ort ein Bild von der
Lage gemacht. Dabei stellten sie auch einige Projekte vor.
Seine Fahrt nach Nordböhmen hatte Premier Nečas äußerst kurzfristig
anberaumt. Am Montagmorgen überraschte er damit sowohl seinen
Kabinettskollegen Drábek, als auch die örtlichen Politiker, die schon
seit längerem ein gemeinsames Treffen veghetrabredet hatten. Anwohner wiederum
halten den Besuch für verspätet. Sie glauben, der Premier hätte sich
schon längst ein Bild von der Lage im Schluckenauer Zipfel machen müssen.
Nečas erläuterte den Termin bei einem Treffen auf der Straße:
„Ich bin mit konkreten Vorschlägen hergekommen und hatte heute ein
Treffen mit allen Bürgermeistern aus dem Schluckenauer Zipfel.
Hierherzufahren gibt dann Sinn, wenn man konkrete Maßnahmen vorstellen
kann.“
Am Wochenende hatte Nečas in den tschechischen Medien bereits erläutert,
was er für ein entscheidendes Problem für die Zustände in den
nordböhmischen Gemeinden hält: das zu generöse Sozialsystem in
Tschechien. Hier knüpfen auch die Vorschläge an, die Nečas sowie
Arbeits- und Sozialminister Drábek am Montag präsentierten. So sollen die
Kinder sozial schwacher Familien von der Straße geholt werden, um die
Entstehung von Jugendgangs zu verhindern und um ihnen eine Zukunft zu
bieten. Ein weiterer Bereich ist die Motivation zur Arbeitssuche. Das alles
hätten Lokalpolitiker nun auch bei den Treffen mit ihm und Nečas
gefordert, erläuterte Drábek.
„Zum Beispiel die Auszahlung von Sozialhilfe daran zu binden, dass die
Kinder zur Schule geschickt werden und man sich an öffentlichen Arbeiten
beteiligt. Dies ist in den Sozialreformen bereits vorgesehen, und
bestätigt, dass wir in die richtige Richtung zielen.“
Konkret will die Regierung 100 Stellen staatlich finanzierter
öffentlicher Arbeit für Arbeitslose schaffen.
Neben dem Treffen mit den Bürgermeistern besuchte Premier Nečas im Ort
Nový Bor / Haida eine Kneipe, die von Roma überfallen wurde, sowie in
Varnsdorf ein Zentrum für Kinder sozial schwacher Familien in einem der
Roma-Ghettos.
„In einem weiteren Schritt sollen Vorschriften verhindern, dass Menschen
in ein sozial ausgegrenztes Viertel ziehen. Das wird verbunden sein mit
genau definierten hygienischen Normen und weiteren Vorschriften für die
Unterbringung.“
Der Regierungschef war nach dem Besuch des Roma-Ghettos in Varnsdorf
entsetzt über die Lebensbedingungen dort. Die geplanten Schritte der
Regierung werden nicht nur von vielen Politikern vor Ort, sondern auch von
Vertretern von Roma-Organisationen und Sozialarbeitern begrüßt.
Allerdings heißt es zugleich, dass ein zentrales Problem damit nicht
angegangen wird: die Diskriminierung von Roma in der tschechischen
Gesellschaft. Der Soziologe Ivan Gabal hatte bereits vor einigen Jahren in
einer Studie vor dem Trend zur Entstehung von Ghettos in Tschechien
gewarnt:
„Um den Trend umzukehren, dass also die Zahl der Menschen, die in die
Ghettos geraten, sinkt und sich die Zahl der Familien erhöht, die da
herauskommen, braucht es Tausende Kleinigkeiten.“
Um diese tausend Kleinigkeiten zu definieren sind aber viele kleine
Projekte vonnöten, die auch bezahlt werden müssen. Mehr Geld also für
die Integration, wie Nichtregierungsorganisationen fordern. Ob die
Regierung angesichts ihres Sparkurses dazu bereit ist, werden die laufenden
Haushaltsverhandlungen zeigen.
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