„Inklusive Bildung“: Ein weiter Weg für das tschechische Bildungssystem
2003 wurden auf EU-Ebene zwei bedeutende Dokumente verabschiedet, die als
Leitlinien der Mitgliedstaaten im Bereich der sonderpädagogischen
Förderung dienen. Das Leitmotiv der beiden Entschließungen heißt
„inklusive Bildung“. So soll die Beschäftigung und soziale
Eingliederung von Menschen mit Behinderungen gefördert werden sowie die
Chancengleichheit für Schüler und Studierende mit Behinderungen bei der
allgemeinen und beruflichen Bildung erhöht werden. Zur Umsetzung dieser
Vorgaben führt in Tschechien allerdings nur ein Weg mit Hürden.
„Das, was ich sehe und was auch viele Lehrer sagen, ist allgemein ein
sinkendes Vertrauen in das bestehende Bildungssystem. Die Kluft zwischen
dem, was im Schulministerium auf der einen und in den Schulen auf der
anderen Seite vor sich geht, vergrößert sich zunehmend.“
So Dana Mores von der Fakultät für humanistische Studien der
Karlsuniversität. Im Rahmen ihrer Forschung befasst sie sich mit der
Qualität der pädagogischen Arbeit und dem Unterricht seit Beginn der
Schulreform im Jahr 2005. Das Bildungssystem setze auf altruistisch
denkende, also aufopferungsbereite Lehrer, behauptet Mores:
„Man rechnet damit, dass der Lehrer, in dessen Klassen Ausländerkinder
ohne Tschechisch-Kenntnisse sind, auf eigene Initiative ein
Integrationsprojekt in seiner Freizeit ausarbeitet und zudem auch versucht,
irgendwo das Geld für die Einrichtung einer Spezialklasse für diese
Kinder herbeizuschaffen. Das ist aber Nonsens. Die Altruisten sind eines
Tages erschöpft und verlassen die Schule, oder sie stumpfen ab und denken
nicht mehr altruistisch.“
Das tschechische Schulwesen sei krank, konstatierte kürzlich der
tschechische Bildungsminister Josef Dobeš. Dass aber die Gesundung nicht
so bald kommt, kann man offenbar auch dem von seinem Amt ausgearbeiteten
Jahresbericht 2010 entnehmen. Dobešs Ressort ist verpflichtet, das
Dokument an den Rat der EU-Bildungsminister zu schicken. Vor drei Jahren
befand nämlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz
in Straßburg, an den sich eine Gruppe der Roma aus Nordmähren mit einer
Beschwerde gewandt hatte, dass das tschechische Schulsystem diskriminierend
für Roma sei.
In der Folge wurde in Tschechien zwei Jahre lang an einer Novelle des
kritisierten Gesetzes aus dem Jahr 2005 gearbeitet. Die Novelle sollte sich
allerdings nicht nur auf Roma-Kinder beziehen, sondern auch auf Kinder von
Asylbewerbern, Kinder aus sozialschwachen Familien sowie auf Kinder mit
gesundheitlichen Behindnerungen. Minister Dobeš hat aber nach seinem
Amtsantritt im Sommer das Gesetzeswerk neu umarbeiten lassen. Der Grund?
Die Kosten der breit angelegten vorgesehenen Maßnahmen zur Lösung der
gravierenden Probleme:
„Als wir die Kosten berechnet haben, kamen wir auf mindestens eine halbe
Milliarde Kronen. Wahrscheinlich ist aber sogar mit 800 Millionen Kronen zu
rechnen. Der Entwurf zur Bewältigung der bestehenden Probleme, mit dem wir
uns gerade befassen, soll die Kosten indes minimalisieren.“
Die umgearbeitete Novelle, deren endgültige Fassung im Januar 2011
zunächst dem legislativen Rat der Regierung vorgelegt werden soll, wird
sich aber nur auf die Probleme der Roma-Kinder konzentrieren. Allem
Anschein nach glaubt die Regierung, damit ausreichend auf die Kritik aus
Straßburg zu reagieren. Aus dem erwähnten Jahresbericht 2010 wird der Rat
der EU-Bildungsminister nach drei Jahren allerdings immer noch nicht
erfahren, was sich an den tschechischen Schulen bereits verbessert hat. Der
Bericht informiert im Prinzip ausschließlich über Maßnahmen, die
Tschechien künftig etappenweise zu treffen beabsichtigt.
Ein 80-köpfiges Expertenteam soll im Auftrag des Bildungsministeriums den
so genannten „Aktionsplan für inklusive Bildung“ vorbereiten. Sein
zentrales Motto lautet: „Jedes Kind mit Behinderung hat das Recht,
gemeinsam mit anderen Kindern lernen zu können.“ Doch die eigentliche
Umsetzung der geplanten Maßnahmen soll erst im Januar 2014 beginnen!
Mittlerweile gibt es Kritik zu hören. Jan Stejskal von der Organisation
„Gemeinsam in die Schule“, einem Zusammenschluss von 15
Non-Profit-Organisationen:
„Die jetzige Führung des Schulministeriums hat die Realisierung des
Aktionsplans praktisch auf Eis gelegt. Bisher kam es nur zu einem Treffen
von Experten, die an dem Plan arbeiten sollen. Seitdem ist aber nichts
passiert.“
Mitglieder des Expertenteams für den Aktionsplan der inklusiven Bildung
haben kürzlich den Schulminister aufgefordert, das Tempo der
Vorbereitungen zu beschleunigen. Sie befürchten, dass ihre Arbeit im
Endeffekt nur eine formale Handlung bedeuten könnte.
Eine bereits im Kindesalter beginnende psychische Störung kann die
Ursache von Problemen mit der Aufmerksamkeit, Impulsivität oder
Hyperaktivität des Kindes sein. Störungen wie Dyslexie oder Dysgraphie,
die sich durch Lese- und Schreibprobleme äußern, erschweren vielen Kindern
das Leben, wenn sie in die Schule kommen. Einen Großteil der so
betroffenen Kinder verteilt das tschechische Schulsystem seit Jahrzehnten
in sonderpädagogische Einrichtungen, für die sich der negativ besetzte
Begriff „Sonderschule“ eingebürgert hat.
Eine Sonderschule zu besuchen bedeutet für viele Kinder ein Stigma und
daran hat sich wohl nicht viel geändert, auch wenn diese Einrichtungen
2005 in „praktische Schulen“ umbenannt wurden. Es ist allgemein
bekannt, dass viele ihrer Schüler auch imstande wären, eine
Regelgrundschule zu absolvieren. Immerhin, so einfach wie früher ist es
heutzutage wiederum nicht mehr, ein Kind mit besonderem Förderbedarf auf
eine der praktischen Schulen abzuschieben. Radio Prag hat in der
Grundschule für Kinder mit leichter geistiger Behinderung im
mittelmährischen Kojetín nachgefragt. Schulleiter Jaroslav Šiška:
„Unsere Schule besuchen Kinder mit leichter geistiger Behinderung von
der 1. bis zur 9. Klasse. Der Inhalt der Lehrpläne muss daher ihren
Fähigkeiten angepasst werden. Ohne die Empfehlung einer
psychologisch-pädagogischen Beratungsstelle oder eines fachspezialisierten
pädagogischen Zentrums könnten wir aber kein Kind aufnehmen. Diese
Empfehlung kann nur aufgrund einer Untersuchung erstellt werden, bei der
die leichte geistige Behinderung des Kindes bestätigt wurde. Die
Initiative liegt in erster Linie bei den Eltern. Falls sie Zweifel an der
Entwicklung ihres Kindes haben, können sie sich an die zuständige
Fachberatungsstelle wenden. Die existierende Störung hätte man oft schon
im Vorschulalter des Kindes nachweisen können. Doch das geschieht allzu
selten.“
Aus welchem Milieu kommen die Schülerinnen und Schüler?
”Der Großteil unserer Schüler kommt aus gesellschaftlich und sozial
benachteiligten Familien. Ihre Eltern ignorieren im Prinzip die
Möglichkeit, bei der Erziehung ihres Vorschulkindes mit einem Sachkundigen
zusammenzuarbeiten. Die meisten dieser Kinder haben keine Kita und keinen
Kindergarten besucht. Eine Störung seiner Psyche wird daher oft erst dann
diagnostiziert, wenn das Kind in eine normale Grundschule kommt und
Probleme im Unterricht hat. Auf Initiative der Schulleitung oder manchmal
auch der Eltern selbst kommt das Kind praktisch erst im fortgeschrittenen
Schulalter in die Obhut eines Psychologen oder Psychiaters.“
Kommt es vor, dass die Eltern die Empfehlung des Sachkundigen, ihr Kind in
eine Schule für geistig leicht Behinderte zu schicken, nicht akzeptieren?
„Auch das kommt selbstverständlich vor. Darauf müssen die Grundschulen
gefasst sein. Auf Empfehlung der spezialisierten pädagogischen Zentren
wird dann in konkreten Schulfächern ein individuelles vereinfachtes
Lehrprogramm für den jeweiligen Schüler ausgearbeitet. Falls es nicht
geholfen hat und der betreffende Schüler nach wie vor Probleme hat, liegt
es an dem Erziehungsberater, der an jeder Grundschule tätig ist, gemeinsam
mit den Eltern eine Lösung zu suchen. Aber auch dann haben die Eltern das
letzte Wort. Sind sie mit der Ausbildung ihres Kindes an der Schule unseren
Typs weiterhin nicht einverstanden, bleibt es in der klassischen
Grundschule.“
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