Roma-Minderheit in Tschechien: Es fehlen die positiven Vorbilder
Nach der erfolgreichen Wiedereinführung von Demokratie, einer freien
Marktwirtschaft und der Bewältigung des Transformationsprozesses ist der
tschechischen Gesellschaft ein ungelöstes Problem geblieben: Die kritische
Situation der Roma-Minderheit hat sich seit der Wende kaum gebessert. Die
negativen Aussagen von Vizepremier Jiri Cunek über Roma haben unlängst
wieder einmal den Blickpunkt auf die Lage dieser Minderheit gerichtet.
Lässt sich also erwarten, dass nach vielen vergeblichen Anläufen sich die
Lebenssituation viele Roma endlich verbessern könnte? Dazu die heutige
Ausgabe unserer Sendereihe Schauplatz.
Die Aussagen der tschechischen Vizepremiers und Chefs der konservativen
Christdemokraten, Jiri Cunek, sorgen seit Wochen für Diskussionen nicht
nur innerhalb der Regierungskoalition. Zuletzt unterstellte er den
Angehörigen der Roma-Minderheit in Tschechien, sie wären
Sozialschmarotzer. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit richtet sich
seither wieder einmal auf die Belange Roma - sie bilden die größte
nationale Minderheit in Tschechien, dass ansonsten der
Nationalitätenstruktur nach ein mehrheitlich homogenes Land ist. Vor allem
wird wieder einmal überlegt, wie man die Armut und die Perspektivlosigkeit
vieler Roma beseitigen kann.
Blickt man aber zurück und betrachtet, wie diese Debatten in der
Vergangenheit geführt wurde, muss man zum Schluss kommen, dass in einigen
Wochen das Interesse der Politiker wie auch der Mehrheitsgesellschaft an
der Findung entsprechender Lösungen wohl schnell wieder verschwunden sein
wird.
Warum gibt es eigentlich von Seiten der öffentlichen Stellen keine
Versuche, die Lage der Minderheit durch systematische Maßnahmen zu
verbessern? Wie sehen die Roma selbst ihre Lage und wie beurteilen sie die
Haltung der tschechischen Politiker? Dazu Ivan Vesely, der Vorsitzend der
Roma-Organisation Dzeno:
"Ich stimme zu, dass die Debatte über die Lösung der alltäglichen
Probleme der Roma nicht kontinuierlich geführt wird, sondern es Wellen
sind, in denen dieses Thema präsent ist. Natürlich versuchen auch die
Politiker gezielt die Roma-Frage aus taktischen Gründen auszuspielen. Wir
dürfen aber nicht vergessen, dass es sich dennoch um ein Randthema auf der
politischen Agenda des Landes handelt. Das trifft aber auch für die Medien
und ihre Berichterstattung über die Roma zu. Kein Wunder also, dass dieses
Thema dann von Leuten wie Jiri Cunek aufgegriffen wird. Diese Politiker
profitieren davon, dass die Behörden seit Jahren unfähig sind, dieses
Problem zu lösen, und machen das zur Grundlage ihrer Beliebtheit bei der
tschechischen Bevölkerung und den Wählern."
Von Seiten der Politiker wurde die Roma-Frage in den vergangenen fünfzehn
Jahren wie eine heiße Kartoffel angefasst und dann wieder fallen gelassen.
Soweit es einen öffentlichen Druck auf die jeweils Regierenden gab, wurde
durchaus versucht gewisse Lösungen zu finden und insbesondere auch
Sofortmaßnahmen zu ergreifen, um die Lage der Minderheit zu verbessern. So
geschehen Mitte der 90er Jahre, als es zu einigen öffentlichen Kundgebungen
von Roma kam, die auf diese Weise auf ihre Lage aufmerksam machen wollten.
Ein weiterer Fall, bei dem der Staat auf Grund eines Impulses von außen
konkrete Hilfe leistete, war in der Zeit der Emigrationswelle der Roma
Ende der 90er Jahre, als viele Angehörige der Minderheit das Land
verließen und oft auf Grund von falschen Erwartungen nach Kanada und in
einige Länder Westeuropas gingen. Doch ausgereifte Konzepte, die zu einer
Verbesserung der Lage der Roma-Minderheit führen könnten, fehlen nach wie
vor. Ivan Vesely hat folgende Erklärung dafür:
"Wir dürfen eines nicht vergessen: Seit dem Jahr 1993, also der
Gründung der Tschechischen Republik, gab es hier sowohl bürgerliche wie
auch linke Regierungen. Ein Regierungswechsel zog immer auch einen neuen
Zugang zur Roma-Frage nach sich. Die bürgerlichen Regierungen sahen in den
Roma eine nationale Minderheit mit einer eigenständigen Kultur und Sprache.
Deshalb wurde in dieser Zeit großer Wert auf die Vertiefung des kulturellen
Bewusstseins der Roma gelegt. Nachdem die Sozialdemokraten an die Macht
gekommen waren, veränderte sich die Sichtweise in dem Sinn, in dem man die
Roma-Frage als eine soziale Frage zu lösen versuchte. Auch das war
problematisch, weil nicht alle Roma automatisch von der
Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt werden und zu den ärmsten gehören. Die
Roma sind keine soziale Gruppe, sondern eine nationale Minderheit, in
deren Rahmen es verschiedene soziale Schichten gibt. Keine Regierung,
weder eine rechte oder eine linke, hat es geschafft, diesen Umstand
Rechnung zu tragen. Hier liegen die Wurzeln der Unzufriedenheit - sowohl
auf Seite der Roma wie auch bei der Mehrheitsbevölkerung. Man sieht
einfach nicht, dass die heute oft kritische Lage dieser Minderheit auch
eine Konsequenz des Transformationsprozesses ist, der die ganze
Gesellschaft in den 90er Jahren erfasste. Ich will nicht sagen, dass die
Schuld ausschließlich bei den einzelnen Regierungen liegt, weil vieles
haben die Roma selbst mitverschuldet."
Als konkretes Beispiel führt Ivan Vesely die Mietschulden vieler Roma an -
was auch in der ostmährischen Stadt Vsetin / Wesetin, wo der eingangs
erwähnte Politiker Jiri Cunek Bürgermeister war, den Stein ins Rollen
brachte. Laut Vesely kündigen viele Gemeinden oder Hausbesitzer wegen
anhaltender Unfähigkeit der Roma ihre Miete zu bezahlen die Mietverträge
und versuchen sie aus ihren Wohnungen zu bringen. Ein weiterer Punkt ist
der fast schon systematisch durchgeführte Ausschluss der Roma-Kinder vom
klassischen Bildungsweg, so wie er Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung
offen steht. Nur die wenigsten Roma-Familien würden sich jedoch dagegen
wehren, wie Ivan Vesely erläutert:
"Im Bereich der Bildung hat bisher ein Großteil der Familien nicht
begriffen, wie notwendig eine gute Ausbildung heutzutage ist. Eine Reihe
Familien schickt ihre Kinder in Spezial- oder Sonderschulen, auch wenn die
Kinder an einem gewöhnlichen Unterricht teilnehmen könnten. Auf der anderen
Seite fehlen in den tschechischen Schulen bei den Lehrern oder Schulleitern
noch die notwendigen Voraussetzungen, um sich diesem Problem zu stellen. Es
geht darum zu zeigen, dass man Interesse an der Aufnahme von Roma-Kindern
hat und mit den Eltern zusammenarbeiten will."
Die Roma-Organisation Dzeno, was auf Tschechisch so viel wie
"Persönlichkeit" heißt, bemüht sich seit Jahren darum innerhalb
der Roma-Gemeinschaft ein neues Selbstwertgefühl entstehen zu lassen. Ein
ganz besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf konkreten Aktivitäten vor Ort.
Die ungefähr 20 ständigen Mitarbeiter der Vereinigung verfolgen dabei
insbesondere ein langfristiges Ziel: Sie wollen zu einer systematischen
Bildung von Eliten beitragen, die dann der Mehrheit der Roma-Volksgruppe
als positives Beispiel dienen könnten. Bislang haben sich diejenigen aus
der Roma-Minderheit, denen der soziale Aufstieg gelungen ist, in der Regel
von ihren Wurzeln losgelöst oder diese - aus Angst vor der Reaktion der
Mehrheitsbevölkerung - verschwiegen. Dazu sagt der Roma-Aktivist Ivan
Vesely:
"Es stimmt, der Trend bei den Roma-Eliten in den vergangenen zehn
Jahren ging dahin, sich von der Mehrheit der Roma zu distanzieren, vor
allem von jenen, die arm sind oder in Konflikt mit dem Gesetz geraten
sind. Das ist natürlich und in jeder Gesellschaft wollen die
Erfolgreichsten mit den weniger Erfolgreichen und Armen nicht in einen
Topf geworfen werden. Das Problem liegt anderswo. Diejenigen Roma, die den
Aufstieg geschafft haben, haben oft die Hoffnung verloren, dass sie etwas
zur Verbesserung der Lage der Minderheit beitragen könnten. Es lässt sich
auch feststellen, dass selbst Roma mit einem Hochschulabschluss und mit
einer geeigneten Qualifikation bei Auswahlverfahren das Nachsehen haben.
Das ist ein Problem, das vielen verantwortlichen Politikern auf allen
Ebenen nicht bewusst ist. Wenn wir nämlich von so genannten positiven
Vorbildern und von Integration sprechen, dann sollte so etwas nicht
möglich sein. Wenn es also immer heißt, dass nur die Qualität eines
Bewerbers entscheidet, sein erreichter Bildungsgrad, die moralischen
Voraussetzungen, dann gilt das für alle, nur nicht für die Roma. Von
welchen positiven Vorbildern will man da also sprechen?"
Wäre so ein positives Signal, wenn es in der tschechischen Regierung einen
Minister, oder eine Ministerin geben gäbe, die oder der zur Roma-Minderheit
gehören würde? Dazu abschließend noch einmal Ivan Vesely:
"Natürlich. Wenn es ein Regierungsmitglied aus den Reihen der Roma
geben würde, wäre das ein historischer Durchbruch nicht nur in Tschechien,
sondern in ganz Europa. Ich weiß nichts davon, dass irgendwo auf der Welt
ein Roma schon einmal am Kabinettstisch mitsaß."
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